Dein wahres Ich

Ich kann es immer noch.
Ich habe eine ganz merkwürdige Gabe der ich, obwohl ich bisher eine 99%ige Trefferquote verzeichne, aber irgendwie nicht so richtig vertraue.
Ich sehe in vielen Menschen das, was sie vor anderen verstecken wollen.
In der Psychologie gibt es diese verbreitete Theorie, dass der Mensch wenigstens fünf Gesichter hat, bzw vier Masken trägt.
Eine Maske hat er für seine Familie, eine für sein berufliches Umfeld, eine für seine Freizeit und eine für enge Freunde. Das fünfte Gesicht ist sein eigenes, welches oftmals sein ganzes Leben lang kein anderer Mensch zu sehen bekommt. Manche Menschen tragen sogar noch mehr Masken.
Gut belegen lässt sich diese Theorie, wenn man mal Arbeitskollegen zu einer Person befragt und dann die Familie der gleichen Person. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit, wird man zwei unterschiedliche Charakterbeschreibungen erhalten.

Bei mir ist es nun so, dass ich die Masken zwar sehe durch das Verhalten der Person, aber ich empfinde sie als Widerspruch. Das heißt, ich nehme die Maske tatsächlich als Maske wahr, nicht als Gesicht. Gleichzeitig sehe ich das Gesicht hinter der Maske.
Als wäre die Maske aus Glas und man könnte hindurchsehen.
Wenn die Maske lacht, die Person aber weint, dann bemerke ich das Lachen, sehe aber, dass die Person dahinter weint.

Als ich dieses “Talent” zum ersten Mal an mir bemerkte, nahm ich an, es ist auf meine stark ausgeprägte Empathie zurückzuführen. Das heißt, ich spüre bei starken Emotionen die Gefühle anderer, als seien es meine – selbst dann, wenn sie versuchen diese zu unterdrücken. Dazu muss ich oft nicht mal in der Nähe der Person sein. In meiner Timeline bei Twitter beispielsweise ist ein Mädchen, die fährt trölfhundertmal am Tag Gefühlsachterbahn. Die durchlebt pro Stunde xmal das volle Spektrum an Emotionen von einem Extrem ins nächste. Das schafft mich. Ich hab schon öfter überlegt, sie zu entfolgen.
Nicht, weil ich ihre Tweets nicht mögen würde oder so, sondern weil mich ihr Gefühlschaos genauso ins Gefühlschaos stürzt und ich habe schon genug mit meinen eigenen Gefühlen zu tun.

Nun kam irgendwann aber der Moment, da bekam ich ein Foto von einem Bekannten. Darauf war ein Mädchen zu sehen, das ich nicht kannte. Sie stand am Bahnhof, glaube ich, und lachte. Er erzählte mir, das sei seine Freundin, er wäre schon einige Jahre mit ihr zusammen. Ich wollte heulen. Nicht wegen ihm, sondern wegen des Bildes. Ich sah es und wollte heulen.
Ich fragte ihn, ob sie traurig wäre.
Er meinte, sie wäre der fröhlichste Mensch, den er je getroffen hatte. Sie sei immer gut drauf, offen und herzig zu allen, witzig, würde andere gern zum Lachen bringen etc. Sie sei sein Sonnenschein.
Ich fragte ihn, ob ich sie mal kennenlernen dürfte.
Da wir weit auseinander lebten, lud er sie irgendwann bei MSN mit in die Unterhaltung ein und ließ uns beide dann alleine. Ich begrüßte sie und erzählte ihr von dem Foto. Ich schrieb ihr, dass es ein schönes Foto wäre, aber es auf mich wirke als sei sie tot traurig obwohl sie lachte und dass mich das irritieren würde.
Sie brach in Tränen aus.
Tatsächlich weinte sie fast jede Nacht alleine und behielt es all die Jahre für sich. Niemand merkte es – ihre Familie nicht, ihre Freunde nicht, ihr Freund nicht.
Alle hielten sie für den munteren Sonnenschein, für den auch ihr Freund sie hielt.
Da muss erst eine völlig Fremde kommen und auf ein Foto gucken, um zu sehen, wie sehr sie sich quälte.

Das gab mir damals zu denken. in zweierlei Hinsicht. Es ist das eine, wenn Menschen böses im Sinn haben und tun, als seien sie vertrauenswürdig. Aber es ist etwas anderes, wenn Menschen mit ihrer Trauer alleine sind, weil niemand merkt, dass sie sich quälen und sie selbst sich aber niemandem aufdrängen wollen.
Ist es eine Frage mangelnden Interesses an unseren Mitmenschen? Kann jeder das Leid anderer bemerken, wenn er nur aufmerksam genug ist? Oder haben diese Menschen es inzwischen gelernt ihre Masken so zu perfektionieren, dass man einfach keine Chance mehr hat, selbst wenn man es wollte? Ist man wirklich darauf angewiesen, dass die leidende Person es einen merken lassen möchte?
Sind sie zu gut, oder wir zu abgestumpft? Hätte man früher mal schauen sollen, als sie noch nicht so geübt im Umgang mit ihren Masken waren?
Und der zweite Punkt: Warum sah ich es? Ich fühlte es nicht direkt, ich sah es. Aber woran? Ihr ganzes Gesicht lachte. Irgendwas nahm ich damals wahr, ohne dass es mir bewusst war.

Ihre Augen lachten wohl nicht.

Ich sprach gestern mit einem Freund über die Sache und ich schickte ihm ein Foto einer Person, wo ich auch denke, dass sie anders fühlt, als sie es vorgibt.
Er teilte meine Auffassung, dass das Bild verstörend wirkt, aber er konnte meine Gedanken zu ihren Augen nicht nachvollziehen. Für ihn sahen sie normal aus und er meinte, es läge an der Form, dass es so wirkt.
Er macht ein Bild von seinen Augen und schickte es mir.
Ich muss dazu sagen, wir kennen uns nur über MSN und hatten auch ein paar Jahre zwischendurch keinen Kontakt, ich könnte auch nicht mit Gewissheit sagen, wie er aussieht und auch so hatte ich nie ein Bild von ihm. Wozu auch?

Ich saß nun vor seinen Augen und starrte sie an.
Und ich sah Schmerz, ich sah Entschlossenheit und ich sah Wut.
Schmerz schob ich darauf, dass ich ihn schon länger kenne und einiges über seine Geschichte weiß. Die ist streckenweise voller Schmerz. Ich war also befangen, was Schmerz betraf. Entschlossenheit? Hm, gab es Situationen wo ich ihn wirklich entschlossen erlebt hatte, dass ich diese Eigenschaft nun in seinen Augen sah?
Und Wut? Definitiv nicht. Er war nie wütend oder auch nur ansatzweise sauer in meiner Gegenwart geworden. Auch so schätzte ich ihn bis zu diesem Moment als sehr sanftmütig ein. Seine Augen aber sagten ganz klar, dass er schnell aus der Fassung zu bringen war, schnell Wut aufbauen konnte.
Ich schrieb es ihm trotzdem – Schmerz, Entschlossenheit, Wut.

Er war… geschockt kann man sagen.
Er erzählte mir, dass wirklich jeder seiner Freunde und Bekannte, die ihn halt kennen ihn immer als sehr geduldig, ausgeglichen, ruhig etc. bezeichnet hatten. Und er selbst gibt sich auch die größte Mühe, das zu sein.
Als Kind aber, sei er so ziemlich das jähzornigste Kind gewesen, was man sich vorstellen könne. Und er kämpfe immer noch damit, das Potential sei nach wie vor vorhanden bei ihm.

Es sind also die Augen. Es ist nicht die Form, oder das Gesicht außen rum, es ist in den Augen. Wut, Trauer, Schmerz, Glück, Liebe, Angst – starke Emotionen. Wenn du sie fühlst, sind sie da drin. Egal wie sehr du dein Gesicht verzerrst, deine Augen geben ungefiltert das wieder, was dein Herz in diesem Augenblick wirklich fühlt.

Markus Zimmer (✝, The Bates) glaube ich war es (kann auch Ville Valo gewesen sein oder noch jemand anderes, ich weiß nicht mehr genau) meinte einst, er trage schwarze Kontaktlinsen, damit man ihm nicht in die Seele schauen könne.

xxx, YM

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2 Senfs zu Dein wahres Ich

  1. Cathy♥ meint:

    Das ist irgendwie… verstörend. Wenn ich mir vorstelle, dass ich so ziemlich jedem Menschen, der mir begegnet in sein tiefstes Inneres gucken könnte und teilweise dies automatisch sehe, weiß ich ehrlich gesagt nicht, ob ich dich zu deiner Fähigkeit beglückwünschen oder bemitleiden soll O.ô vermutlich irgendetwas dazwischen.

    Was mich ehrlich gesagt interessiert: Wenn du ein Foto von dir betrachtest, kannst du dann auch hinter deine Masken schauen bzw. sehen, was deine Masken ausmacht?

    • YM meint:

      Von mir gibt es nicht so viele Fotos. Und ich habe maximal 2 Masken, die größtenteils auch ineinander verlaufen. Meine Familie kennt mich nicht viel anders, als Fremde oder Arbeitskollegen, gute Freunde etc.
      Meine engsten Freunde kennen mich genauso, aber kennen eben noch weitere Dinge, die ich eben nur ihnen anvertraue. Das heißt, sie kennen einen Teil meiner Schwächen.
      Da ich nur sehr schwer und selten anderen vertraue ergeben sich die Masken hauptsächlich aus diesem Grund heraus.
      Und, ob ich meine eigenen Masken sehe? Ich finde meine Augen leer. Ich hasse Fotos, sie entstehen grundsätzlich gegen meinen Willen, wenn andere sie machen. Ich werde regelmäßig zu Familienbildern genötigt.
      Allein deshalb müssten meine Augen, wenn sie etwas hergeben, eine Mischung aus Abneigung, Unterlegenheit, Unsicherheit, Genervtheit und noch irgendwas was mein Gefühl ausdrückt, regelmäßig von Menschen unterdrückt zu werden, die sich n Scheiß dafür interessieren, wie es mir dabei geht, enthalten. Schwer zu sagen.

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