Wer versteht hier wen nicht?

Diese Amoklauf-/Schulmassaker-Geschichten bringen mich immer wieder in diese seltsam verwirrende Position, dass ich nicht mehr weiß an wem ich hier eigentlich zweifeln muss – wirklich an mir oder an den anderen?

Mein Leben lang schon beobachte ich Menschen. Ich schaue, wie sie sich wann benehmen. Ich hinterfrage, warum sie sich wann wie benehmen.
Ich speichere Daten in meinem Kopf ab, unter welchen Bedingungen sie was taten und vergleiche, ob sie unter den gleichen oder ähnlichen Bedingungen erneut auf die gleiche oder ähnliche Weise reagiere. Ich lernte zu erkennen mit welcher Wahrscheinlichkeit jemand etwas wann und wie tut.
Das ist nicht immer logisch oder rational, aber idR irgendwie nachvollziehbar. Die Ursachen sind selten soweit von der Folge entfernt, dass ich nicht doch noch irgendwie einen Zusammenhang herstellen könnte – was in dem jeweiligen Kopf vorgegangen sein könnte. Zumal die meisten Menschen, so scheint es, selten weiter als einen Schritt vorausdenken.

Ich bildete mir immer ein, ich würde Menschen gut verstehen. Wenngleich es immer wieder Situationen gab, wo das offenbar nicht so war – ich registrierte z.B. nicht, ob und wenn, welche Erwartungen jemand gerade an mich hatte. Ich bekam zum Geburtstag ein Geschenk und bedankte mich brav. Der Schenkende stand da und guckte, lächelte ein bisschen verlegen – da war dieser seltsame Moment. Wollte er jetzt eine Umarmung? Sollte ich tanzen vor Freude? Ich freute mich, aber musste ich das zum Ausdruck bringen? Welches Maß an Freude musste ich aufbringen, dass es angemessen war?

Eine Freundin lebte an der Armutsgrenze. Seit Monaten. Keine wirkliche Besserung in Sicht. Dann schrieb sie mir, sie sei schwanger. Ich war entsetzt – ausgerechnet jetzt einer der größten Kostenverursacher, den man sich überhaupt vorstellen kann! Ich schmiedete im Kopf schon Notfallpläne, damit sie nicht ihre Wohnung verliert oder zusammen mit dem Kind hungern muss. Sie reagierte eigenartig und dann hörte ich ein halbes Jahr nichts mehr von ihr.
Wahrscheinlich hatte sie sehr viel zu tun, sie war schließlich schwanger – da gab es sicher viel zu organisieren in ihrem Leben.
Später erfuhr ich, sie war nur enttäuscht und sauer. Auf mich. Weil ich mich nicht mit ihr gefreut hatte ob dieser wunderbaren Nachricht, dass sie ein kleines Wunder erwartete.

Zwei von vielen Situationen, die mich im Nachhinein zweifelnd zurück ließen – verstand ich die Menschen doch nicht?
Auf der anderen Seite – wer hätte das ahnen können? Dazu müsste man doch hellsehen können! Nik kann das – mehr oder weniger. Er sagte: “Völlig egal, was vorher war – wenn eine Frau dir erzählt, dass sie schwanger ist, freust du dich wie bescheuert mit ihr!”
(O_O)
Abgespeichert.
Beim nächsten Mal weiß ich das und bin wieder ein bisschen mehr Experte im Menschenverstehen!

Und dann läuft jemand Amok an einer Schule oder tötet seine Familie. Und die Medien berichten und die Menschen sind in heller Aufruhr. Sie diskutieren in Foren, debattieren im TV, Experten fachsimpeln in den Tageszeitungen oder im Abendprogramm – und ich lese mir das durch, höre es mir an, beobachte die Reaktionen, sammle Fakten und komme immer wieder zu dem Schluss: Häh?!

Nicht, dass ich nicht verstehen würde, wieso die Medien, viele Menschen und Politik sich weigern öffentlich auszusprechen, dass gesellschaftlicher Ausschluss, Leistungsdruck, verletzte Seelen sich oft nicht mehr anders zu helfen wissen – dass wir in einer kaputten Welt leben, dass die Menschen seelisch zerfallen.
Es macht psychologisch Sinn, sich dem nicht zu stellen, wenngleich es kontraproduktiv und irrational ist.

Nein, was ich nicht verstehe sind Antworten auf Fragen wie: “Warum läuft jemand an einer Schule Amok?”
Meine vorerst banale Antwort wäre: “Die Schule wird als eine der Ursachen betrachtet, aus denen heraus die Unerträglichkeit unter der der Amokläufer leidet, entstanden ist – mit allem, was dazu gehört”
Das erscheint mir logisch. Ich kann nun nicht auf Erfahrungswerte zurückgreifen – weder bin ich selbst mal Amok gelaufen, noch habe ich je mit jemandem zu tun gehabt, der dies mal tat.

In Foren jedoch lese ich immer wieder Antworten wie diese: “Die Täter suchen sich Schulen aus, weil sie sich da stark fühlen können, den großen Krieger geben, weil sie sonst in ihrem bedauernswerten Leben nichts erreichen konnten.” oder “Sie suchen sich Schulen aus, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen! Sie wollen mit einem großen Knall von der Bühne treten! Wollen in die Geschichte eingehen als jemand übermächtiges!” oder “Die sind neidisch auf andere Schüler, weil die was in ihrem Leben erreichen werden. Also erschießen sie die. Damit die nichts mehr erreichen können!”
Und sie ernten Verständnis von anderen Diskussionsteilnehmern, sie ernten Zustimmung. “Ja, so wird es sein. So muss es sein. Das klingt plausibel.”
Bitte? Für mich ergibt das alles gar keinen Sinn!
Geht es wirklich nur um Eitelkeiten? Warum erschießt sich dann jemand anschließend selbst, wenn er nur auf Ruhm aus ist? Was hat er denn dann noch von seinem Ruhm?
Und was interessiert mich, ob andere in ihrem Leben noch was erreichen, wenn ich selbst doch sowieso tot bin?
Ich verstehe es nicht. Liegt das an mir? Fehlen mir Informationen? Muss ich an mir zweifeln? Ich bin es gewohnt an mir zu zweifeln – es wäre also nicht das Problem, ich kann damit leben.

Aber ich frage mich immer öfter in speziell solchen Situationen, ob es hier nicht angebrachter wäre, an den anderen zu zweifeln (O_O)
Vllt. verstehen ja diesmal die nichts.
Die Aussagen erscheinen mir einfach als viel zu skurril/merkwürdig/subjektiv/etc. als dass ich sie als Erklärung annehmen könnte oder mir überhaupt die Mühe mache, das zu verstehen.

Kurz gesagt: Muss ich die Menschen verstehen, weil sich Menschen verstehen? Oder leben Menschen in einer sozialen Blase, die ihnen vorgaukelt, sie würden einander verstehen, aber im Endeffekt lamentieren und agieren sie ständig unbemerkt aneinander vorbei, reden wirres Zeug und zum Schluss geht jeder mit dem Gefühl: Was für ein erquickendes Beisammensein das wieder war, wir haben uns alle toll verstanden!
Haben sie das? (O_O)
Verstehen sie wirklich?

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4 Senfs zu Wer versteht hier wen nicht?

  1. Gabi meint:

    Ganz ehrlich,bei dieser schwangeren Freundin hätte ich genauso reagiert oder ich wäre zumindest verwirrt gewesen,ob ich ihr jetzt gratulieren soll oder na ja etwas schockiert sein soll.
    Aber diese Aussagen,dass Amokläufe mit Neid und Ruhm zu tun haben,sind wirklich sehr grenzwertig. Ich würde dasselbe wie du sagen,diese Menschen hatten Probleme,wurden wohlmöglich ausgegrenzt oder verspottet oder es ging ihnen seelisch wirklich sehr schlecht und in ihrer verzweifelten Situation wussten sie nicht weiter und entschieden diesen Weg zu gehen. Für mich ist das die einzige “normale” Erklärung und ich denke solche Menschen sind einfach nur ein Beweis unserer angeblich tollen Gesellschaft. Im allgemeinen finde ich,dass man heutzutage noch nicht mal etwas Kritik an anderen äußern darf,weil man ja gleich als Neider und Hater abgestempelt,einfach nur lächerlich.

    • YM meint:

      Das beruhigt, wenn man nicht alleine dasteht mit seiner Denkweise (^^)
      Was du über die freie Meinungsäußerung sagst – dass man bei Kritik gleich beschimpft bzw als Neider oder Hater beschimpft wird – das habe ich auch schon öfter beobachtet. Besonders im Internet kommen solche “Argumente” (du bist ja nur neidisch!) schnell. Als würde man mit Schafen diskutieren. Man bringt ein anständig formuliertes Argument (oder eine berechtigte Kritik) basierend auf nicht von der Hand zu weisenden Fakten und zurück kommt Geblöke. Und das Geblöke wird unterstützt.

      Auch schon oft erlebt: Gerne findet sich einer ein, der meine Argumente nimmt und diese als Gegenargumente zu meinem Beitrag nutzt.
      Beispiel:
      Ich schreibe: Der Grizzlybär, als eine Unterart des Braunbären, lebt in Nordamerika.
      Ein anderer antwortet auf meinen Beitrag und schreibt: Das kannst du so nicht sagen! Denn eine Unterart der Braunbären ist ja der Grizzlybär! Und der lebt ja nun mal in Nordamerika!

      Und ich bleibe verwirrt zurück. Was soll das? Dieses Verhalten habe ich nie verstanden und verstehe es auch heute noch nicht – ist das Absicht von den Leuten? Provokation? Idiotie? Drücke ich mich zu unverständlich aus? Bezwecken die irgendwas bestimmtes damit? Lesen die einfach nicht richtig?
      Ich bin da völlig überfordert mit (O_O)

  2. Cathy meint:

    Dein Verhalten bei der schwangeren freundin kann ich absolut nachvollziehen, ich hätte mich auch erstmal gewundert O.o

    Bei deinen letzten Absätzen musste ich spontan an Matrix denken von wegen Vorgaukeln und so. Manchmal kommt es mir so vor, als ob eine Gruppe von leuten, die zusammen etwas unternommen hat, ihre Unternehmung als unglaublich toll beschreiben, tausende Bilder auf fb posten, obwohl es so toll nunmal garnicht war, um.. Naja wieso eigentlich? Gesellschaftlicher druck, dass man unbedingt super Freunde haben muss und das auch allen zeigen muss? Die Unternehmung nachträglich aufzuwerten? Ich weiß es nicht, erscheint mir einfach nur suspekt.

    xoxo Cathy

    • YM meint:

      Stimmt das ist so ähnlich, was ich schon beschrieben hatte – als würden ihre Gehirne die Erinnerung schon während sie entsteht vernebeln. In Gesprächen hören sie nicht mit den Ohren zu sondern – keine Ahnung, mit dem Bauch, mit ihrem subjektiven Empfinden – sie nehmen wahr, was sie wahrnehmen wollen, aber eben nicht unbedingt das, was wirklich gesagt wurde. Oder ein eher mittelmäßiger Abend wird, wie du schon richtig beschreibst, am Ende als riesen Event beschrieben. Da frage ich mich auch – ist das der gesellschaftliche Druck, dass man etwas erlebt haben muss, etwas zu erzählen haben muss, oder sind das deren Gehirne, die sie selbst vor minimalsten Enttäuschungen zu schützen versuchen und ihnen deshalb vorgaukeln, dass et ja doch alles ganz schön war?
      Ich habe ebenfalls keine Ahnung.

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